Ansprache gehalten von Dr. Ernst Wiebe
Liebe Vettern und Basen, Nichten und Neffen, liebe Angehörige und Freunde der Familie Wiebe!
Wir sollten vielleicht etwas Rückschau halten und vorher, glaube ich haben wir aber auch allen Anlaß zu danken. Danken möchten wir einmal hier der Gemeinde, die uns die Räume zur Verfügung gestellt hat, danken möchten wir vor allen Dingen den Initiatoren und Organisatoren unseres heutigen Treffens. Wenn ich aus der Fülle derjenigen, die sich darum bemüht haben, herausgreifen darf Hans-Otto Fieguth, Horst Penner, meine Schwester Lisbeth, die leider infolge Erkrankung zu ihrem und unserm Bedauern heute nicht hier sein kann, wie es uns vieleicht um jeden leid tut, der der Familie angehört und nicht hier sein kann, seis es, daß er wegen interkontinentaler Entfernung nicht kommen konnte, sei es, daß er aus beruflichen Gründen nicht hierher kommen konnte, oder daß er aus anderen Gründen den Weg zu uns noch nicht finden wollte. Ganz besonders herzlich aber danken müssen wir in jedem Fall unsern beiden Kusinen Gretel Wadehn und Grete Tgahrt, die in einer, ich kann wohl sagen, unvorstellbaren Weise für unser leibliches Wohl gesorgt haben, für Unterkunft, für Verpflegung, die das auf dem menschlichen, leiblichen Gebiet getan haben, was die drei erstgenannten auf ideellem Gebiet für uns vorbereitet haben. Und schließlich darf man auch nicht vergessen, ich möchte es jedenfalls an dieser Stelle global tun, den Familien zu danken, die hier in Enkenbach uns so herzlich aufgenommen haben. Jeder Einzelne von uns wird das ja selbstverständlich noch persönlich tun, aber ich wollte es gern einmal hier herausgestellt haben, diese herzliche Gastfreundschaft, die wir ja so oft in unserer Heimat empfangen und gewährt haben und die wir so als selbstverständlich angesehen haben.
Nun, wir sollten auf die Familie Wiebe zurückkommen, ausgehend von Peter Wiebe, Ladekopp. Der Chronist vermeldet: Geboren am 9. November 1825, gestorben am 22. Februar 1899, verheiratet mit Agathe, ebenfalls geborene Wiebe. Nun, sind wir deßhalb alle hierher gekommen? Wohl kaum. Aber ein anderes Bild: Peter Wiebe, Dein Bild hängt vor mir in der Sommerstube des Ließauer Elternhauses, im breiten Eichenrahmen ist eingeschnitzt: „Die Seinen vergessen ihn nicht“. Wer von der zweiten Generation nach Peter Wiebe, d.h. von meinen Vettern und Basen kennt nicht die Ließauer Sommerstube und kennt nicht das Bild von Peter Wiebe! Wie oft hat der eine oder andere von Euch trotz des Festestrubels, der ja damals zu herrschen pflegte, wie oft habe ich vor diesem Bild gesessen und das Antlitz betrachtet. Wie oft habe ich mir damals die Frage vorgelegt: Was habe ich Dir zu verdanken, was habe ich von Dir zu tragen. Ein kantiger Kopf, ja, da geht ja schon die Wiebesche Chrakteristik los. Kantig, ja, kann man sagen. Wir alle wissen, wie oft wir darunter zu leiden haben, daß das, was wir sagen, nicht gerade scherzhaft, aber doch immerhin ernst gemeint war und sehr streng aufgefaßt wurde. Ein ernstes, fast strenges Gesicht , ernst und streng, Der Ernst, dies beherrschte Gesicht läßt nicht vermuten den Jähzorn, den mein Vater selbst in seinen Schilderungen als das Wiebesche Erbübel dargestellt hat, das vielleicht in den früheren Generationen noch stärker ausgeprägt war; na und vielleicht über den mildernden Einfluß der zugekommenen Ehepartner vielleicht doch etwas besänftigt werden konnte. Das strenge Gesicht läßt aber nichts vermuten von der Güte, die ebenfalls nach den Schilderungen seines Sohnes in diesem Manne steckte, auch wenn es ihm nicht gegeben war, sie seinen kleinen Kindern gegenüber zur Geltung zu bringen; sondern wenn es erst dann von den Kindern als solche empfungen wurde, wenn diese Kinder selbst erwachsen waren. Nun ich glaube auch das ist eine beinahe Wiebesche Familieneigenschaft. Wenn sie von meinem Vater gegenüber dem Großvater so dargestellt wurde und wenn ich an meinen eigenen Vater denke, der ebenfalls von uns Kindern erst dann vielleicht richtig erkannt wurde, als wir selbst erwachsen waren! Wie wie weit es mir selbst auf diesem Gebiet gelingt, das mögen zu gegebener Zeit die Kinder beurteilen.
Das war meine eigene Einstellung zu einem Mann, ein selbstsicheres Gesicht sagte ich, selbstbewußter Charakter, das hören alle direkten Nachkommen gern, wen nähme das nicht für sich selbst auch in Anspruch. Selbstbewußt? Ja, vielleicht etwas herrisch, jetzt nicken die anderen, die Ehepartner, die familiär Zugereisten, könnte man sagen. Nun, aufgrund ihres größeren Abstandes sind sie ja in der Lage und nach dem ersten Eherausch fühlen sie sich wahrscheinlich auch durchaus verpflichtet, in erster Linie die negativen Seiten der neuen Familie zu erkennen. Aber, wo gibt es im Leben schon Licht ohne Schatten? Also wollen wir das einen nehmen, das andere tragen. Die positiven Eigenschaften kennen, heißt sie zu fördern und pflegen, die negativen anerkennen, heißt sie dämpfen, bekämpfen und mildern. Es mag dabei eine Charakterfrage sein, wie weit es dem einzelnen selbst gelingt, oder wie weit er sich dabei des veredelnden Einflusses des Partners bedient.
Aber es ist nicht nur Peter Wiebe allein, denn die, die wir heute hier zusammengekommen sind, laufen zwar letzten Endes auf Peter Wiebe zurück und dort zusammen, aber es gilt ja letzten Endes Peter Wiebe, seiner Frau Agathe und deren acht Kindern.
Da ist einmal Marie, die älteste Tochte mit Onkel Tgahrt, genannt Barbarossa, in meiner Erinnerung still, scheinbar im Hintergrund stehend, bis da so an einer ganz unvermuteten Stelle in der Unterhaltung so ein kleiner Haken aufblitzt, der einen munteren Gesprächspartner plötzlich still werden läßt. Bei ihrem Sohn Otto war dieser Speilzahn prächtig ausgebildet, der mit seinem trockenen Humor die kühnsten Debattenredner in Verlegenheit bringen konnte.
Ganz das Gegenteil dazu die zweitjüngste Tochter Helene, Tante Helene mit Onkel Johannes Fieguth, Berlin-Lichterfelde, das krasse Gegenteil dazu, quicklebendig, temperamentvoll; wo Tante Helene war, war Leben, und ich kann mir vorstellen, daß dieses Temperament nicht nur immer im Lachen seinen Ausdruck fand.
Daneben Käthe mit Onkel Heinrich Penner, Neuteich, die jüngste, allzu früh verstorben, die wahrscheinlich nur für die älteren meiner Generation meiner Vettern und Kusinen wirklich ein Begriff ist. Mir selbst ist sie nur in Erinnerung – ich möchte sagen, als eine stille Heilige – in deren Gegenwart man irgendwie still wurde, leise auftreten mußte, wie gesagt, sie starb 1916, ich war 11 Jahre alt, ich habe an sich nicht mehr sehr viele Erinnerungen daran.
Un dann dazu Agathe! Teilnehmer aller Jungens-Streiche ihrer Brüder, die sich nichts daraus machte dafür in der Verwandschaft die Jungsmarjell genannt zu werden, trotzdem Mittelpunkt der Familie für ihre Geschwister, nicht nur das, darüber hinaus Mittelpunkt auch der nächsten heranwachsenden Generation und darüber hinaus, kann man beinahe sagen, im Rahmen ihrer viele Jahre durchgehaltenen Pension in Marienburg auch Mittelpunkt des halben Werders auf der einen wie auch der anderen Seite der Nogat. Sie stand ihren Mann, so lange sie selbstständig sein mußte, bis sie dann schließlich das Erbe, Pflege und Verwaltung des Ehes ihrer Schwester ubernahm als die zweite Frau Frau des Onkel Johannes Fieguth in Berlin. Und ich glaube, wie mir einmal geschildert wurde, der Unterschied in den Temperamenten zwischen Helene und Agathe geht vielleicht daraus hervor, daß der Onkel Johannes, nachdem er mal mit seinem Uhrmacherwerkzeug vielleicht etwas länger oder etwas gründlicher als unbedingt notwendig irgendwie herumgeklopft hatte, sich einmal sehr enttäuscht umdrehte zu seiner zweiten Frau und sagte: „Wie ist das, Agathe, ärgerst Du Dich garnicht?“ Sie meinte dazu: „Nein, das würde sie nicht tun, um ihn damit zu ärgern“! So weit die Schwestern.
Un dazu die vier Brüder.
Peter, energiegeladen, tatendurstig, Sturm und Drang, zu dessen schönsten Zeiten, so hart es klingt, wahrscheinlich vier Frontjahre gehören. Vielleicht etwas Leichtsinn! Aber wo kann einer schon überaus tatendurstig ohne Leichtsinn sein!
Dazu Otto mit Tante Irmgard in Ottlau! Als Junge unter den Verwandten und Onkeln und Tanten Geliebter seiner Geschwister, als Onkel für seine ganzen zahlreichen Neffen und Nichten der beliebteste unter den Geschwistern der Eltern. Wer hat das wohl mal seinem einzigen Namenträger Klaus gesagt? Auch Klaus trägt den Namen Wiebe und ich befürchte, er zählt sich irgendwie als Außenseiter. Er hat nocht nicht zu uns gefunden, aber, wie gesagt, wer hat ihm vielleicht bisher das Herz geöffnet und die Verbindung dahin gezeigt? Das Gegenteil von den beiden älteren Brüdern ist Otto, der lebensbejahende, übersprudelnde, stets freudige, freudig Bewußte, freudig nehmende und Freude spendende Mensch, bei dem zu sein immer wieder eine Freude war, bei dem immer Pferde bereitstanden, wenn die Nichten und Neffen reiten wollten; während sie bei meinem eigenen Vater eigentlich am Sonntag geschont werden mußten, weil sie werktags gearbeitet hatten – na, das ist Auffassungssache -. Bei Onkel Otto war immer alles da, was gebraucht wurde.
Und trotzdem waren diese beiden Brüder letzten Endes diesem Leben nicht gewachsen und wurden von diesem Leben überwältigt.
Daneben die beiden älteren, der Lämmer-Wiebe mit Tante Marie und mein eigener Vater Hermann mit meiner Mutter Tante Lenchen, beide erfolgreich, beide vielleicht unter den Brüdern die ausgeprägtesten Typen, wenn man mal von einem Typ Wiebe sprechen will – wie Agathe vielleicht unter den Töchtern war – beide zweifellos selbstbewußt, beide wahrscheinlich etwas herrisch. Aber geht das eine ohne das andere? Wer wagt da die Grenze zu ziehen? Welch’ eine Freude, mit Onkel Hans durch die Marienburg zu gehen, wenn er sich das Schlüsselbund geben ließ, dem Wärter, dem Wächter, oder wie ich ihn nennen will und soll, nur freundlich zunickte und dann mit seinen Neffen und Nichten Wege durch diesen Prachtbau ging, die sonst wohl kein Besucher des Marienburger Schlosses gesehen hat. Und nicht nur ging, sondern erklärte! Mit Onkel Hans durch die Marienburg gehen war gleichbedeutend, als wenn einem ein Rittermantel umgehängt wurde und man das Klirren der Schwerter, das Scharren der Rosse im Brughof, das lebhafte Treiben einer Redidenz vernahm, die diese Marienburg einmal gewesen ist. Welch eine Freude mit Onkel Hans durch den Marienburger Stadtpark zu gehen, daran durfte ich jedenfalls noch teilnehmen, mit Liedern, die gesungen werden mußten und mit Wettlauf, bei dem ich als jüngster etwas Vorhand bekam, um dann auf die Nase zu fallen, weil ich stolperte. Das half aber nichts, auf diese Weise war Annemarie früher da, und wenn ich auch grollte, sie blieb die Siegerin. Vielleicht darf man auch sagen auf der anderen Seite: Welch’ eine Freude für jeden landwirtschaftlichen Fachmann, mit meinem Vater durch die Wirtschaft zu gehen oder zu fahren, wenn es nach dem Kaffeetrinken rund um ging zur Zeit, die man bei richtigem Sonnenstand die „Schwiegervater-Beleuchtung“ nannte. Das ist verständlich für Landwirte die das kennen gelernt haben. „Schwiegervater-Beleuchtung“ ist der Stand der Sonne, bei dem man mit der Sonne und gegen die Sonne sehen kann und es liegt immer ein silberner Schimmer über der Saat, so daß das Unkraut, wenn es vorhanden sein sollte, nicht so in Erscheinung trat und Fehlstellen im Bestand verdeckt wurden. Das war wichtig, wenn man dem Schwiegervater sein eigenes Können vorführen wollte und daran interessiert war, sich selbstverständlich von der richtigen Seite zu zeigen.
Das waren die Zeiten unserer Eltern! Was waren sie einzeln? Kinder ihrer Eltern und mit ihren Ehepartnern zusammen Mütter und Väter ihrer Kinder. Sie waren vertreter ihrer Berufe, und was waren sie zusammen? Sie waren Angehörige einer Familie mit Ruf und Klang. Das ist nämlich etwas, was wir neben Heimat, Beruf und Vermögen auch noch verloren haben, wir haben das Gesicht verloren! Wer in der Heimat Penner, Fieguth, Epp, Warkentin, Tgahrt, in Danzig selbst Momber hieß, der war für die Bevölkerung ein Begriff, und wir dürfen in diesen Reigen die Wiebes wohl ruhig einfügen! Es war dasselbe wie Schmitz in Köln, meinetwegen auch wie Krupp, Essen im Weltgeschehen. In der eigenen Heimat waren das feststehende Begriffe, bei denen kein Mensch übersah, daß jede Familie besonders positive Könner und auch negative Versager hat, aber die Familie, der Name stand. So waren alle Angehörigen der Familie Wiebe, nicht nur auslaufend auf ihren Vater Peter Wiebe sondern einfach als Begriff der Großfamilie Wiebe, wie wir eine Großfamilie Penner, Nickel, Fieguth haben oder wie sie heißen mögen.
Was sie wirklich waren als Familie, das merkte man auch erst, wenn man zu den Geburtstagen nach Schradau, nach Marienburg, nach Ließau, nach Neuteich fuhr. Nun, die Ihr jetzt hier wart bei Wahdens, Ihr habt ein Wenig davon spüren und ahnen können; und ich konnte nur noch sagen: 20 Personen, 30 Personen mehr dazu auf drei Zimmer verteilt und es ist alles wie einst im Mai! Es ging genau so durcheinander, daß keiner mehr sein eigenes Wort verstand und genauso lautstark wurde gesprochen, als wenn jeder das Bedürfnis hatte, alle anderen zu übertönen in der Sorge, im nächsten Stadtviertel könnte es eventuell einer nicht hören! Lebhaft, laut, fröhlich, das konnte man ungefähr sagen als den Grundbegriff und Gesamtbegriff dieser Familienfeste, in denen die Geschwister aus ihren eigenen Familien heraustraten und einfach wieder Geschwister, wieder Familie sein wollten mit allen, die dazu gehörten, seien es Verwandte, die dazu gehörten, seien es Freunde, Bekannte, die sich dazu bekannten.
Und sie hatten es einfacher; sie lebten in der Familie geschlossener, geschlossen im Raum, geschlossen im Beruf, und wir lebten in der Diaspora. Nicht nur bezüglich der Gemeinde, dazu könnte man gerade in Enkenbach sagen, eine ausgesprochen geschlossene, stattliche Gemeinde. Nein, ich meine wir leben in der Diaspora räumlich über die Bundesrepublik verteilt; und beruflich in der Diaspora, weil von dem ursprünglich beherrschenden bäuerlichen Beruf der Familie Wiebe nur noch einige Randerscheinungen übrig geblieben sind, die nicht mal mehr praktisch tätig sein dürfen, sondern sich in der Beratung betätigen wie die Söhne und Schwiegersöhne von Hermann Fieguth, wie ich selbst mich dazu wohl noch rechnen darf. Aus dem beherrschenden bäuerlichen Element hat sich ein anderes herausgeschält. Man könnte vielleicht sagen, daß es jetzt der technische Beruf ist, in den verschiedenen Ingenieursparten und in dem pädagogischen Beruf, in den verschiedensten Lehrberufen in Stellungen, die die Geschwister, Neffen und Nichten inzwischen auf diesem Gebiet einnehmen. Damals aber lebten sie geschlossen im Raum, sie lebten geschlossen im Beruf. Denn von den acht Geschwistern waren drei Brüder und die Tante Maria Tgahrt, Schardau, direkt in der Landwirtschaft tätig – die Tante Agathe muß man ja unbedingt dazu rechnen, so lange sie die Pension in Marienburg hatte – und der Lämmer-Hans mit dem „Weißen Lamm“ in Marienburg als Sammelpunkt der ganzen Werder-Bauern, wenn sie nach Marienburg kamen. Oder der Onkel Heinrich Penner in Neuteich mit dem Kolonialwaren Geschäft, die waren so eng mit der Landwirtschaft verbunden, daß er genau an der Zahl der verkauften Milchkannen wußte, wie die Ernte ausfallen würde; weil es entweder Milch oder Getreide gibt. Der außerdem so mit allen Dingen meiner Mutter verbunden war, daß unser guter Kutscher Kowalski auch während der Kriegszeiten seinen Kautabak hatte. Das waren Verbindungen mit der Landwirtschaft, die so eng waren, daß man sie durchaus, nun meinetwegen als Randerscheinung, zur Landwirtschaft zuzählen kann. So daß denn also eigentlich nur noch die eine Familie Fieguth übrig blieb, die damals sich beruflich und räumlich abgesondert hatte. Und, wie gesagt, sie hatten den Vorteil geschlossen zu leben. Mehrere Male in Jahr war ja Gelegenheit, sich bei den Geburtstagen zu sehen. Und wenn dann noch die verschiedenen Hochzeiten kamen – und bei den ja damals etwas größer geratenen Familien als es heute der Fall ist, blieben die ja nicht aus, manchmal überstürzten sie sich geradezu – dann war die Gelegenheit gegeben, daß nicht nur die Geschwister, daß Neffen und Nichten, Großneffen, Großnichten in diesen Familienkreis hineinwuchsen, daß diese ganzen Namen ebenso selbstverständlich würden, wie sie es leider heute nicht sind; wie wir heute eine Gelegenheit suchen müssen, damit unsere Kinder ihre nächsten Vettern einmal sehen oder einmal wiedersehen. Das war der Vorteil damals.
Denn wenn wir uns jetzt die Karte vorstellen und an jedem Wohnort eine elektrische Lampe einsetzen, und wir drücken einmal auf das Knöpfchen Peter Wiebe, ja, dann ist es nur Ladekopp und später Irrgang, drücken wir auf das nächsten Knöpfchen für eine Generation später, dann leuchtet Schardau, Marienburg zweimal, Neuteich, Ließau, alles in unmittelbarer Umgebung auf. Ja, einer hat sich abgesondert etwas mehr, aber Ostpreußen-Westpreußen bis nach Grünblum gehörte doch irgendwie zusammen. Ja, und dann flatterte das da links oben! Das war doch, ja, das ist Berlin! Ja, natürlich, da hatte der Fritze wahrscheinlich wieder an der Leitung herumgebastelt! Oder er funkt SOS? Nein, nein, nein, Fieguth, Ihr braucht nicht SOS zu funken. Das kommt davon wenn man sich mit der kaiserlichen Marine einlässt. Erst die Welt umsegelt und dann von Langfurh nach Berlin zieht, nur um seinen höchsten kaiserlichen Kriegsherrn sehr nahe zu sein. Nein, sie sind nicht vergessen, denn sie wurden oder sie blieben wohl die treuesten Westpreußen, die wir in der Familie gehabt haben. Kaum eine andere Familie hat diesen Drang nach der Heimat gespürt wie es die Berliner Fieguths taten, vielleicht auch, weil wir es garnicht nötig hatten, wir saßen ja da! Die räumliche Geschlossenheit in der westpreußischen Heimat, das zu schätzen setzt allerdings voraus, sich zu kennen. Dies gesegnete Land zwischen Weichsel und Nogat, nicht landschaftlich, für die meisten sogar wahrscheinlich als Niederung langweilig, aber landwirtschaftlich so wertvoll, daß ich wiederholt erleben durfte bei meinen Reisen zum oder besser noch vom Reich nach Hause, wie im Zug plötzlich, nachdem man nun natürlich die Tucheler Heide durch war mit dem Swaroschiener Wald und dann von Dirschau aus über die Brücke plötzlich 18 km durch ein Gebiet fährt, das mit zu den fruchtbarsten unseres Vaterlandes gehörte. Daß dann mit einem Male die Menschen im Zug erstaunt aufsahen: Was ist denn hier los? Das war ja verständlich: Hinter Berlin war ja kalte Heimat und hinter der Weichsel lag ja für viele Menschen hier im Westen bereits Polen, von Sibirien ganz zu schweigen, das auch noch einbezogen wurde. Dieses Land, gesegnet durch seine Fruchtbarkeit, beherrscht von Kultur, das Land der Hansestadt Danzig! Wer weiß nicht zu schätzen die architektonische Schönheit dieser Stadt und die Dreieinigkeit von schöner Stadt, Wald und See. Wen zieht’s nicht immer wieder im Blick zu der beherrschenden Residenz der Marienburg, von der ich vorhin sprach, wer kennt nicht Elbing mit seinem betriebsamen Hafen und Leben, wer kennt nicht den ganzen Kultureinfluß des Ordens, der seiner Zeit als ein Musterstaat in der ganzen Welt galt? Wer kennt nicht den Einfluß dieser Tätigkeit auf das ganze Land, ausgedrückt in den Bauten, in der Ordnung, in der Disziplin, die sich dort ausdrückte. Und wer kennt letzten Endes nicht die Oberländischen Seen mit dem Kanal, wo zum Erstaunen aller Menschen, die es nicht gesehen haben, das Schiff mit einem Male über Land fahren soll und es auch tat! Das war die Landschaft, in der die Menschen wuchsen, schwer im Boden, schwer zurückhaltend in der charakterlichen Veranlagung, schwer, wie der Boden festhielt, was er einmal aufgenommen hatte. So schwer, so treu stand der Mensch zu dem, zu dem er einmal ja gesagt hatte. Das ist die Rückschau auf die Eltern, die gegangen sind und auf die Heimat, die wir hatten.
*Nachfolgend ein “Nachtrag” zur Rede, die Ernst Wiebe verfasst hatte, als diese Rede hier einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden sollte (allen, die z.B. nicht kommen konnten / wollten)*
Schriftlicher Nachtrag von Dr. Ernst Wiebe zu seiner Ansprache anlässlich des Wiebe Familientages Pfingsten 1961 in Enkenbach.
Wenn schon diese Gedanken und Erinnerungen einem weiteren Kreis zugänglich gemacht werden sollen, dann halte ich es für notwendig, daß die Gedanken angefügt werden, die ich eigentlich der jüngeren Generation, d.h. also unsern Kindern zugedacht hatte. Ich habe sie damals in Enkenbach gar nicht erst begonnen, sondern meinen eigenen Gedankengang abgebrochen, weil ich befürchtete, daß die kurze Begrüßung schon übermäßig viel Zeit in Anspruch genommen hatte.
Unmittelbar vor den abschließenden Begrüßungsworten wäre einzuflechten:
Wem aber sagen diese Gedanken und Erinnerungen etwas? Vielleicht den Angehörigen meiner Generation. Ich aber rufe die Jugend unter uns, ich frage die dritte Generation nach Peter Wiebe: Wen kennt ihr denn aus diesem Kreis Eurer Familie? Was wißt Ihr denn von Graudenz, Kulm, Thorn, Rastenburg, Königsberg und all den anderen steinernen Zeugen Deutscher Kulturarbeit in 700 Jahren, die dem Land das Gepräge gaben? Was wißt Ihr von der Kasubischen Rominter Heide, den Masurischen Seen, umrahmt von dunklen, rauschenden Wäldern? Was wißt Ihr von der herben Schönheit ostdeutscher Landschaft, der Ihr entstammt? Nichts! Wer nahm jemals einen Atlas zur Hand und zeichnete ein kleines Kreuz dahin, wo Schardau liegen müsste, oder Grünblum, Neuteich oder Wernersdorf, Ladekopp oder Ließau? Niemand!
Darum frage ich Euch heute und Ihr mögt morgen oder später Euch selbst die Antwort geben auf die Frage:
Wo und wie ist euer geistiger Standort? Ich frage Euch: Seid Ihr so ausschließlich Kinder dieser wirtschaftswunderlichen Zeit mit ihrer materiellen Einstellung, daß Vernunft und Verstand nur bis zu einem einträglichen Beruf reichen, daß Herz und Seele Beglückung und Befriedigung finden in dem schlechtesten aller Wertmaßstäbe, dem Geld? Oder seid Ihr noch bereit, an Stelle einer klingenden Erbschaft, die wir verloren, ein verpflichtendes Vermächtnis zu übernehmen, es zu pflegen und dereinst weiterzugeben?
Ich frage Euch: Werde ich von Euch mitleidig belächelt, als veraltet abgetan oder gar des Nationalismus bezichtigt, wenn ich in Eurer Gesellschaft von Idealen spreche, wie Treue, Freiheit, Vaterland? Oder gilt auch Euch noch etwas die lodernde Forderung: An’s Vaterland, an’s teure, schließ’ Dich an, dort sind die Wurzeln Deiner Kraft!
Habt Angst vor billigem Patriotismus.
Wem das Vermächtnis zu lästig, diese Forderung zu beschwerlich ist, dem Wünsche ich für heute recht frohe Stunden und für morgen eine gute Heimfahrt.
Wer aber das eine übernehmen und sich dem anderen unterwerfen will, dem gebe ich zu bedenken, daß die Familie die Keimzelle des Volkes ist, wie der Heimatboden, dem wir entstammen, der wichtigste, weil charakterbildende Teil des Landes, das zusammen mit dem Volk den Begriff Vaterland prägt. Dienst Du Deiner Familie, so dienst Du Deinem Volke; und dienst Du Deinem Volke, so dienst Du Dir selbst! Aber nicht umgekehrt!
Darum dient Eurer Familie. Nicht mit großen Aktionen, sondern zunächst einmal mit etwas Interesse. Fragt doch mal Eure Eltern nach den Beziehungen zu den Menschen, die Ihr heute hier getroffen habt! Fragt doch einmal die Eltern nach dem Hof, auf dem sie lebten, nach der Stadt, nach dem Land in dem sie tätig waren! Wir Älteren, und ich schließe mich nicht aus, haben wenig davon zu Euch gesprochen. Es fehlte nicht an der Zeit dazu, es fehlte an der Kraft.
Denn 1945 lag hinter uns ein Chaos so unvorstellbaren Ausmaßes, daß Ihr es hoffentlich auch nur annähernd nicht begreifen mögt, denn es hieße für Euch, es selbst einmal durchleben zu müssen. Neben uns standet ihr, die Kinder, die Familie, mit den unabdingbaren Forderungen nach Ernährung und Kleidung, und vor uns war ein Nichts außer der bangen Frage, was oll nun werden? Das Schicksal hatte uns hart geschlagen, aber in Eurem Interesse mußten wir selbst noch härter gegen uns sein. Da blieb keine Zeit und es blieb keine Kraft zum sentimentalen Rückwärtsschauen. Es blieb nur ein eisernes Muß und ein harter Befehl: „Augen geradeaus!“
Nun haben wir uns wohl inzwischen wieder gefangen, und wenn Ihr jetzt die Eltern fragt, dann wird ihnen das Herz aufgehen beid er Erinnerung an die Zeiten, die einst waren, bei der Erinnerung an eine besonnte Vergangenheit. Wahrscheinlich wird ein Goldschimmer das Bild umrahmen, aber wer wollte das verargen?
So dient Eurer Familie!
Ich glaube, so gesehen, hat sich Zeitopfer und Geldopfer der Fahrt vielleicht doch gelohnt. Wir wollen keinen Totenkult betreiben und wir wollen keine Jammerlieder anstimmen, daß wir das, was wir hatten, nun verloren haben. Wir wollen uns besinnen auf das, was uns gemeinsam gehört, und nicht das sehen, was uns trennt. Wir möchten einmal wieder das Gefühl haben, zusammen zu gehören und wir möchten das Gefühl haben, einmal wieder zusammen zu sein, so sehe ich den Sinn dieses Familientages an.
So grüße ich und begrüße ich Euch alle im Geiste Peter Wiebe und seiner Kinder in dem Geist, der in uns lebt, in uns fortwirkt und den wir an die Kinder weitergeben sollen.
Und wir alle wollen, obwohl wir vielleicht nicht zum Schluß in der heimatlichen Erde ruhen werden, nicht ruhen können, wie es in der letzten Strophe heißt, wir alle wollen unseren Eltern und unserem Großvater danken und unsere Heimat grüßen mit dem Westpreußenlied:
- Westpreußen, mein lieb’ Heimatland,
wie bist du wunderschön!
Mein ganzes Herz, dir zugewandt,
soll preisend dich erhöh’n.
Im Weichselgau ich Hütten bau’,
wo Korn und Obst der Flur entsprießt,
wo Milch und Honig fließt.
Refrain:
wo Korn und Obst der Flur entsprießt,
wo Milch und Honig fließt. - O Land, durch deutsche Tüchtigkeit
und deutschen Fleiß erblüht,
dir schwört mein Herz Ergebenheit
und Treue mein Gemüt.
Durch deutsche Kraft und Wissenschaft
sei deutsches Wesen, deutsche Art
dir allerzeit gewahrt.
Refrain:
sei deutsches Wesen, deutsche Art
dir allerzeit gewahrt. - Wie lieblich grüßen Wald und Feld,
manch blauer See im Tal.
Drum steht mir auf der ganzen Welt
kein schönres Land zur Wahl.
Im Weichselgau auf blum’ger Au
will ich dereinst begraben sein,
ich zur Ruhe sein.
Refrain:
will ich dereinst begraben sein,
ich zur Ruhe sein.
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